OLDIES
Franz Schöler ist seit über
4 0
Jahren aufmerksamer Be-
obachter der Musikszene. In
STEREO kommentiert er neu
erschienene Aufnahmen der
Rock- und Popgeschichte.
B o ttle Rockets
BOTTLE ROCKETS/
THE BROOKLYN SIDE
Blue Rose 2 CDs (p)
(146’)
REPERTOIREWERT
ÜBERSPIELQUALITÄT
7
Als er sich bei Uncle Tupelo als
Roadie und Gitarrentechniker ver-
dingte und auf deren Debüt als Gi-
tarrist gastierte, hatte Brian Henne-
man schon zwölf Jahre in Bars und
Clubs im Süden der USA seinen Un-
terhalt als professioneller Musiker
verdient. Jay Farrar und Jeff Twee-
dy revanchierten sich, als er mit
den Bottle Rockets ein Band-Pro-
jekt startete. Die mit Farrar im Du-
ett gesungene Country-Rock-Balla-
de „Kerosene“ war einer der bes-
ten Songs auf deren erstem Album,
während Tweedy bei seinem ehe-
maligen Angestellten mit dem an
Merle-Haggard-Klassizismus erin-
nernden und mit viel Twang musi-
zierten „Every Kinda Everything“ zu
hören ist. „Rural Route“ hatte mehr
mit Crazy Horse als mit seinerzeit
modischem Grunge Rock gemein-
sam, andere Songs erinnerten an
Lynyrd Skynyrd und Southern Rock,
die Henneman m usikalisch ent-
scheidend sozialisiert hatten.
Von einem derzeit in der Country
Music schwer angesagten Thema -
dem „White trash“-Mi-
lieu - handelte auf
dem Folgealbum un-
ter anderem der Song
„Welfare Music“. Über
die alleinerziehende
Mutter in demselben
singt Henneman: „She
buys cassette tapes in
the bargain bin/Loves
Carlene Carter and Lo-
retta Lynn.“ Heimeli-
ges Südstaaten-Gefühl
will sich trotz Dobro,
Mandoline und Fiedel
nicht einstellen. Für Country- Rock-
und Americana-Verhältnisse sind
die Anmerkungen über ein „1000
Dollar Car“ im gleichnamigen Song
sehr linkes Gedankengut. „Take Me
To The Bank“ mit dem klassischen
„Johnny B. Goode“-Riff kann man
auch als Kommentar zum amerika-
nischen Kapitalismus und Lob des
Rock ,n‘ Roll deuten.
Shelby Lynne, Steve Earle, Dave
Marsh und andere Koryphäen lo-
ben in den Liner Notes diese Band,
die nie so erfolgreich abhob wie
Wilco und Son Volt. Die Remaster
kommen mit fast zwei Dutzend Bo-
nus-Tracks.
OLDIE DES
MONATS
The Everly Brothers
SONGS OUR DADDY TAUGHT US
Bear Family 2 CDs (p) 1958_______________ (90}
REPERTOIREWERT
ÜBERSPIELQUALITÄT
John Prine hat die Gegend, in der
Don Everly geboren wurde, in ei-
nem Song verewigt mit den Ver-
sen: „And daddy, won’t you ta-
ke me back to Muhlenberg Coun-
ty/Down by the Green River whe-
re Paradise lay?“ In diesem Para-
dies, einer ländlichen Gemeinde
in Kentucky, wurde Bruder Phil
dann nicht geboren, sondern in
Chicago. Aber anders als alle aus
der Arbeiterklasse und dem „Whi-
te trash“-Milieu des Südens stam-
menden Rock ,n‘ Roll-Stars ha-
ben sie nie ein Geheimnis aus ih-
rer Herkunft gemacht: Die zweite
LP für Archie Bleyers Cadence Re-
cords war auch ein Bekenntnis zu
den m usikalischen Wurzeln, wie
das weder Elvis noch Chuck Berry,
Johnny Cash oder anderen Stars
damals in den Sinn kam.
Aufgewachsen in Tennessee und
Iowa, hatten sie Vater Ike bei sei-
nen Auftritten bei zwei Sendern
in Shenandoah assistiert, nur um
die Lieder ihrer Kindheit später
mit unübertrefflichen Belcanto-
Harmonien zu adeln. Ähnlich be-
törend klangen sie sonst im Duett
vornehmlich bei Balladen wie „Li-
ke Strangers“ oder „Take A Mes-
sage To Mary“, Letztere die Ge-
schichte eines tödlich endenden
Überfalls auf eine Postkutsche,
erzählt vom im Knast einsitzen-
den reuigen Räuber. Die Kompo-
sition von Felice und Boudleaux
Bryant, aufgenommen am 2. März
1959, war thematisch die Fortset-
zung der beiden Sessions vom Au-
gust zuvor, während der sie Tra-
ditionals und Country-Songs wie
„Roving Gam bler“ oder „Barba-
ra Allen“ aufgenommen hatten -
überwiegend regionale Hits für
Gene Autry, Merle Travis, Patti Pa-
ge, die Monroe Brothers und an-
dere. Dabei wurden sie nicht be-
gleitet von Cracks wie Chet Atkins
und Floyd Cramer, sondern nur von
Floyd Chance am Bass.
Auch schottische Folksongs aus
dem 19. Jahrhundert oder den
Karl & Harty-Evergreen „Kentu-
cky“ sangen sie so hinreißend wie
die uralte Ballade „Who’s Gonna
Shoe Your Pretty Little Feet“. Klar
war, dass Labelbesitzer und Pro-
duzent Archie Bleyer mit so restlos
anachronistischem Liedgut keine
Hit-Singles haben würde.
Faszinierend ist im Vergleich zu
der Bonus-CD „Songs Our Daddy
Learned“, wie die Everly Brothers
die Originalvorlagen mit einfühl-
samen Interpretationen an schie-
rer Qualität übertreffen. Zum in-
dest „Put My Little Shoes Away“
von der Chuck Wagon Gang klingt
da berückend wie das Volkslied
aus John Fords Western „The
Searchers“ („Der schwarze Fal-
ke“). Ein Song, dessen sich Ry
Cooder leider niem als annahm,
ist „I’m Just Here To Get My Baby
Out of Jail“ von den Blue Sky Boys
- weil endlos sentimental!
W olfgang Michels
PERCEWOOD’S ONAGRAMM FEAT.
MICHELS - ORIGINAL ALBUM SERIES
Parlophone 5 CDs
(338’)
REPERTOIREWERT
MICHELS - ORIGINAL ALBUM SERIES
Rhino 5 CDs__________________________(327’)
REPERTOIREWERT
Ü B E R S P IE L Q U A L IT Ä T (a lle )★
Anders als Krautrock-Bands, die
unbedingte Originalität für sich in
Anspruch nahmen, trat man Wolf-
gang Michels nie zu nahe, wenn
man sich bei seinen Platten fragte,
welcher von ihm geschätzte Musi-
ker (oder auch: welcher Song) ihn
da wohl inspiriert hatte. Bei einem
frühen aus der „psychedelischen“
Phase mit Percewoods Onagram
waren das im Fall von „Sing This
Song Together“ eher frühe Traffic
und insbesondere Dave Masons
„You Can All Join In“ denn die von
ihm überaus geschätzten Rolling
Stones. Was seinem „Entdecker“
Alexis Korner wohl auch sofort auf-
fiel, war die schiere handwerkliche
Songwriting-Klasse des Teenagers,
die dann auch bei vielen mehr wie
Demos anmutenden frühen Aufnah-
men unverkennbar war. Mit hei-
ßem Herzen und kühlem Kopf ge-
schriebene Songs machten Michels
bald zu einer raren Ausnahmeer-
scheinung. Aller eingestandenen
Begeisterungfür
seine Idole (zu-
mal Bob Dylan
und Neil Young)
zum Trotz konn-
te man ihn nie
einen Epigonen
schimpfen.
Wie
sehr
er
Wert auf sorgfältige Produktion
legte, wurde beim vierten Album
„Ameurope“ fast schon überdeut-
lich klar. Das nächste und letzte
unter altem Bandnamen nahm er
in einem Studio an der amerikani-
schen Westküste auf, „Full Moon
California Sunset“ mit erwähntem
„Sing This Song Together“ in neu-
er Aufnahme beginnend: Dokument
der Ambitionen für einen Neube-
ginn. Mit „Irgendwas stimmt hier
nicht“ erfand sich Wolfgang Mi-
chels ganz neu. Das ziemlich meis-
terliche „Keine Probleme“, eine der
wenigen Platten unter diesen Re-
master-Editionen ohne reichlich Zu-
gaben, bestätigte definitiv seinen
Ausnahmerang. Weil alles spott-
billig in Pappe veröffentlicht wird,
verzichtete man auf die Songtexte
der Neuüberspielungen von 2003.
★ ★ ★ ★ ★ hervorragend I ★ ★ ★ ★ sehr gut I ★ ★ ★ solide I ★ ★ problematisch I ★ schlecht
STEREO 4/2014 129
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